Schiefergas in Europa und China: Euphorie oder Ablehnung?

Dank der Öl- und Gasschiefer-Vorkommen, die in den letzten Jahrzehnten in den USA entdeckt wurden, wird allgemein angenommen, dass die USA mittlerweile auf dem Weg hin zu einer Energieautarkie sind. Die in der Folge gesunkenen Gaspreise erhöhen die Wettbewerbsfähigkeit einiger inländischer Industriezweige – von Massenchemikalien und Primärmetallen bis hin zu geringeren Kosten sowohl für Rohstoffe als auch für Energie.



Doch werden die USA und die dort ansässigen Unternehmen wirklich bis in alle Ewigkeit als einzige von preiswertem Gas profitieren, wie viele momentan glauben? Im Januar 2013 schloss Royal Dutch Shell PLC in Davos einen Gewinnbeteiligungsvertrag mit der Ukraine ab, der diesem Unternehmen über einen Zeitraum von 50 Jahren die Erschließung und die Förderung von Öl- und Schiefergas ermöglicht. Schließlich gibt es solche Schiefervorkommen nicht ausschließlich in den USA. So verfügen diverse Staaten Europas und Afrikas (Frankreich, Großbritannien, Polen, Deutschland, die Türkei, die Ukraine, Südafrika, Marokko, Libyen und Algerien) ebenso über beträchtliche Schiefergas-Reserven wie verschiedene andere Länder weltweit (Chile, Kanada, Mexiko, China, Australien, Argentinien und Brasilien). Bei ersten Untersuchungen wurde in insgesamt 32 Staaten sechsmal so viel technisch förderbares Schiefergas gefunden wie in den USA. Die entscheidende Frage ist nun, welche dieser Vorkommen sich letztlich als „hoch qualitativ“ erweisen werden. Bei den US-Vorkommen liegt das Schiefergestein nämlich tendenziell dicht unter der Erdoberfläche (und ist somit besser erreichbar). Außerdem ist es vergleichsweise porös (so dass sich das Gas einfacher extrahieren lässt). Im Gegensatz dazu liegen die Vorkommen in anderen Staaten oftmals tief unter der Erde und sind deshalb nur relativ schwer zu erreichen (so dass ihre Ausbeutung technisch schwieriger und auch teurer ist).

In Europa gehen die Meinungen im Hinblick auf Schiefergas derzeit weit auseinander und reichen bei diesem Thema von Euphorie bis hin zu totaler Ablehnung. Schließlich wird bei der Förderung mittels des so genannten „Fracking“ ein Cocktail aus Wasser, Sand und diversen Chemikalien mit Hochdruck in ein Bohrloch gepumpt, um so das Gas aus dem Gestein zu pressen. In den Niederlanden und in Luxemburg durchgeführte Probebohrungen wurden wegen ökologischer Besorgnisse sowie aufgrund des öffentlichen Drucks ausgesetzt. In Frankreich ist das Fracking mittlerweile verboten, und auch in Deutschland hat Angela Merkel inzwischen mit immer mehr Protest aus den Reihen der Opposition zu kämpfen. Gleichzeitig hat auch ExxonMobil seine Probebohrungen in Polen kürzlich eingestellt, weil diese nicht die erwarteten Ergebnisse gebracht haben. In Spanien wiederum hat die baskische Regionalregierung zuletzt bekannt gegeben, dass die Exploration der 185 Mrd. Kubikmeter Schiefergas, die im Gran Enara-Vorkommen vermutet werden, 40 Mio. Euro kosten wird.

Es werden allerdings keine allzu schnellen Durchbrüche erwartet. Die Ausbeutung von Schiefergas-Vorkommen in Europa könnte sich – je nachdem, durch wen und wo die Förderung erfolgen soll – als ein langwieriger, technisch schwieriger, politisch kniffliger und rechtlich komplizierter Prozess erweisen, zumal sich die Frage nach den Eigentumsrechten stellt. Allerdings ist auch der Bedarf an zuverlässigen und preiswerten Energiequellen nach wie vor hoch. Orlando Finzi, der für den Energiesektor zuständige Direktor für das Kreditresearch hier bei M&G, hat mir kürzlich erzählt, dass insbesondere der zweite Aspekt zurzeit heiß diskutiert wird: Innerhalb der EU sehen die langfristigen Gaskontrakte, auf denen ein Großteil der europäischen Gasversorgung beruht, eine Bindung des Gaspreises an den Ölpreis vor. Angesichts der jüngsten Verhandlungen zwischen Käufern und Abnehmern, bei denen diese Preisbindung bereits etwas verwässert wurde, könnte sich dies jedoch als problematisch erweisen. So bemüht der deutsche Versorger RWE derzeit ein Schiedsgericht, um eine vollständige Aufhebung dieser Preisbindung in seinem Vertrag mit Gazprom zu erreichen. Doch in welche Richtung werden sich die Preise in Europa dann entwickeln? Falls sie sinken sollten, könnte es sich als attraktiver erweisen, anstelle der Schiefer-Vorkommen die bereits bestehenden Erdgasreserven auszubeuten. Aber wer weiß, was passiert, wenn die Preise weiter steigen sollten. Darüber hinaus könnte die dringend notwendige Reduzierung der CO2-Emissionen noch ganz andere Szenarios zur Folge haben. So sind manche Leute von dem derzeitigen System, das neben einer Senkung des CO2-Ausstoßes auch den Handel mit Emissionsrechten vorsieht, enttäuscht (siehe nachfolgende Grafik): Da am Markt momentan zu viele Emissionsrechte in Umlauf sind, besteht einfach kein Anreiz, den CO2-Ausstoß zu reduzieren.


Geht es um die Senkung der CO2-Emissionen oder um die Überbrückung des Bedarfs, der mit erneuerbaren Energien bisher noch nicht gedeckt werden kann (falls Windkraftwerke beispielsweise mangels Wind keinen Strom erzeugen), dann ist Gas ist eine hervorragende Alternative zu anderen fossilen Brennstoffen (in erster Linie zu Kohle, aber auch zu Öl). Doch werden die Länder Europas angesichts einer stagnierenden Konjunktur, einer unsicheren Angebotslage sowie wegen der erforderlichen Emissionssenkung letztlich einen Weg finden, die vielen Probleme zu lösen und die Schiefergas-Vorkommen zu erschließen? Würden Großbritannien und Spanien unter politisch günstigen Bedingungen ihre Schiefergas-Reserven schnell und erfolgreich ausbeuten? Und würde diese neue Energiequelle das Wachstum in den schwachen Volkswirtschaften wirklich ankurbeln, die Arbeitslosigkeit senken und regionale Unternehmen aus einzelnen Industriezweigen wettbewerbsfähiger machen?

In China ist die Begeisterung hingegen größer. Zwar betrachten einige die Wendung Chinas hin zur Förderung von Schiefergas immer noch eher als einen in weiter Zukunft liegenden Traum und weniger als einen Prozess, der heute bereits in Gang gesetzt wird, doch mittlerweile muss man in diesem Zusammenhang auch eine Vielzahl neuer Entwicklungen berücksichtigen. So sorgte beispielsweise die massive Luftverschmutzung in vielen chinesischen Städten in der Öffentlichkeit zuletzt für Aufregung. Auch aus diesem Grund tendiert China, wo die weltweit größten Vorkommen vermutet werden (erste Untersuchungen der EIA haben ergeben, dass die Reserven Chinas 50 Prozent höher sind als die US-Vorkommen), inzwischen ausdrücklich zu saubereren Energiequellen und hat einen immensen Energiebedarf (die Nachfrage nach Gas, das bisher vollständig importiert wird, ist dabei besonders hoch). Obwohl bisher nur wenige Informationen darüber vorliegen, hat das Unternehmen Petrochina, das gemeinsam mit einer kanadischen Partnerfirma derzeit das Schiefergas-Vorkommen in Alberta erschließt, bereits in ganz China erste Schiefergas-Bohrungen durchgeführt. Der Konzern Total bereitet mit einem chinesischen Geschäftspartner momentan ebenfalls einen Vertrag zur Exploration von Schiefergas-Vorkommen in ganz China vor, der möglicherweise bereits in einigen Tagen unterschriftsreif ist. Darüber hinaus hat China kürzlich angekündigt, dass sich in einer zweiten Bewerberrunde für die Erschließung von 19 Schiefergas-Vorkommen in Zentralchina 16 (ausschließlich einheimische) Unternehmen durchgesetzt haben. Im Rahmen dieser Explorationsaktivitäten sollen in den nächsten Jahren 2 Mrd. US-Dollar investiert werden. Die entscheidende Frage in China (und auch in einigen anderen Ländern weltweit wie etwa Argentinien und Mexiko) ist nun die, welche Technologie benötigt wird und wie man auch jene Reserven ausbeuten kann, deren Förderung aus geologischen Gründen sehr schwierig und kostenintensiv ist. Meiner Meinung nach wären vergleichsweise schnelle Fortschritte zwar nur mit ausländischer Technologie möglich, doch der Energiebedarf vor Ort, die Entschlossenheit auf politischer Ebene sowie eine aufgeschlossenere Öffentlichkeit (die derzeit unter der Smog-verpesteten Luft leidet) sprechen dafür, dass wohl eher in China als in Europa mit solchen Fortschritten zu rechnen ist. Doch werden die guten alten Zeiten eines zweistelligen BIP-Wachstums in China tatsächlich zurückkehren, falls diese Gasschiefer-Vorkommen schneller als erwartet erschlossen werden? Wird das lokale Schiefergas für die chinesischen Unternehmen, die ihren Kostenvorteil zunehmend an Nachbarländer wie Vietnam und Indonesien oder aber zurück an die USA verlieren, mit Blick auf die nächsten 10 Jahre wirklich einen nachhaltigen Wettbewerbsvorteil mit sich bringen? Und wird sich die prognostizierte Verlagerung der Produktion und damit auch der Beschäftigung zurück in die USA als lediglich vorübergehendes Phänomen erweisen?

Es ist nach wie vor sehr schwer, die zukünftige Tendenz des Energiesektors vorherzusagen. Die Aussichten für das Segment Schiefergas außerhalb Nordamerikas werden in hohem Maße von dem jeweiligen politischen Umfeld sowie den Entwicklungen an den internationalen Gasmärkten abhängen. Dazu zählen etwa das zukünftige Verhältnis von Angebot und Nachfrage, Preisverhältnisse (z.B. Flüssigerdgas im Vergleich zu Pipelines) und -schwankungen, die jeweiligen Produktionskosten, das klimapolitische Umfeld (so ist beispielsweise fraglich, ob es anderen Staaten wie etwa Argentinien gelingen wird, ausländische Unternehmen davon zu überzeugen, ihnen bei der Erschließung ihrer Reserven zu helfen, während man gleichzeitig weiter fleißig Firmen enteignet), sowie regionalspezifische Probleme. Doch stellen Sie sich nun einmal ein gar nicht mal so abwegiges Szenario vor: Die US-Schiefergas-Vorkommen werfen auf lange Sicht unerwartet wenig ab (schließlich betont die EIA stets, dass die langfristigen Produktionsprofile der US-Schiefergas-Bohrungen ebenso unsicher sind wie die letztlich erwarteten Erholungsraten bei Öl und Erdgas), während die Schiefergas-Reserven in China und Europa überraschend schnell erschlossen werden. Dies könnte zu einer kompletten Neugestaltung der Energiepreise führen und damit letztlich sogar den Welthandel sowie das geopolitische Gleichgewicht aus der Bahn werfen.

 

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Nicolo Carpaneda

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