Sollte Europa von der Einheitswährung Abschied nehmen, um die Union zu retten?

Heute ist der Tag, an dem der Fußball auf die Krise in der Eurozone trifft, denn Deutschland und Griechenland stehen sich im Viertelfinale der Europameisterschaft gegenüber. Die Zuschauer werden sehr genau auf alle Gesten von Angela Merkel achten, die im Stadion neben anderen Vertretern aus Politik und Wirtschaft sitzen wird. Ebenso auf das Verhalten (und die Transparente) der Fans beider Teams innerhalb und außerhalb des Stadions sowie auf jeden Auftritt und jedes Wort der Teams auf dem Platz und während der Interviews nach dem Spiel. Die Tatsache, dass die aktuelle Berichterstattung sich zu einem großen Teil auf die politische Dimension dieses Spiels konzentriert, zeigt einmal mehr, in welch polarisierten Zeiten wir gerade leben. Ein Spiel, das, ehrlich gesagt, in der Vergangenheit für keines der beiden Länder besonders wichtig gewesen war, ist laut einigen Kommentatoren und Entscheidungsträgern plötzlich zu einem hoch emotionalen Ereignis geworden, bei dem es um Erfolg, Respekt und sogar Würde geht. Inzwischen sieht die europäische Integration immer mehr wie eine sehr komplexe Theorie aus, deren Umsetzung (ob mit oder ohne Erfolg) sich als eine der größten Herausforderungen des 21. Jahrhunderts erweisen könnte. Dabei habe ich heute Abend interessanterweise Insider-Status. Als Deutscher, der sich dieses Spiel in der europäischen Hauptstadt Brüssel ansieht, der Schaltzentrale der europäischen Bürokraten und Politiker, der Euro-Enthusiasten und Euro-Skeptiker, verspreche ich mir interessante Erkenntnisse. Inwieweit diese wirklich aufschlussreich sein werden, bleibt abzuwarten. Angesichts der Tatsache, dass man sich in Brüssel nach meinen bisherigen Erfahrungen wie in einer Blase vorkommt und vom Bürgerwillen und -wollen weit entfernt, bin ich sehr gespannt!

Da ich am kommenden Wochenende in Brüssel bin und auch mit vielen Kollegen gesprochen habe, die für eng mit der Europäischen Union verbundene Einrichtungen und Unternehmen arbeiten, lag es für mich nahe, auch über die politische Dimension der Krise in der Eurozone nachzudenken. Ich stellte mir die Frage: „Wenn die Europäische Union vor allem ein politisches Projekt oder sogar ein politisches und auch wirtschaftliches Projekt ist, das dazu gedacht war, sowohl politische Stabilität als auch Wohlstand zu schaffen, kann man da nicht vielleicht behaupten, dass es aktuell nicht nur auf der wirtschaftlichen Ebene versagt (wie schon früher festgestellt), sondern auch auf der politischen Ebene?“

Weshalb ist das so? Mein erster Gedanke dazu ist folgender: Wenn der Euro als eine Fortsetzung des europäischen Integrationsprozesses verstanden wird, bei dem es im Kern darum ging,

  • nach dem Zweiten Weltkrieg einen dominierenden Staat in Europa, der das Schicksal des Kontinents bestimmen kann, zu vermeiden
  • die soziale und wirtschaftliche Mobilität zu verbessern und eine europäische Identität zu schaffen
  • die Demokratie zu fördern und infolgedessen demokratische Einrichtungen zur Voraussetzung für die Mitgliedschaft zu machen,

befinden wir uns nicht derzeit in einer Situation, in der die Währungsunion zu einem Fehlschlag hinsichtlich dieser Punkte geführt hat? Dafür sprechen folgende Gründe:

  • Deutschland diktiert anscheinend die Tagesordnung, was aber offensichtlich als Tabuthema gilt.
  • In Teilen Europas sind zunehmende nationalistische Tendenzen zu beobachten sowie negativ polarisierte Gefühle gegenüber anderen Mitgliedstaaten.
  • Italien als Gründungsmitglied der Union hat einen nicht demokratisch gewählten Regierungschef (inklusive einer technokratischen Regierung) dazu ermächtigt, das Land für etwa eineinhalb Jahre zu führen, sofern man davon ausgeht, dass die nächsten Wahlen erst im April 2013 stattfinden.

Mein zweiter Gedanke gilt der Rechtmäßigkeit einer weiteren europäischen Integration (Fiskalunion, Eurobonds, politische Union), die momentan als Teil der Lösung für die Krise diskutiert wird. Wenn es beim europäischen Projekt auch um die Demokratie geht, ein Wert, der stark betont wird, ist da nicht viel Überzeugungsarbeit seitens der Politik erforderlich, um den Wählern „beizubringen“, dass sie die weitere Integration wirklich wollen? Dazu ist festzustellen, dass

  • die Wählerschaft in Teilen Europas sich nicht mit der Vorstellung anfreunden kann, andere Länder zu retten, d. h. deren Last mitzutragen
  • eine gemeinsame europäische Identität offensichtlich nicht real vorhanden ist
  • die volle soziale und wirtschaftliche Mobilität noch nicht erreicht ist und die aktuellen politischen Diskussionen auf nationaler Ebene in ganz Europa eher eine abnehmende Tendenz vermuten lassen, angesichts von Gesprächen über die teilweise Aussetzung des Schengener Abkommens.

Der dritte Gedanke zum Abschluss der Argumentation handelt vom Wesen der Integration und folglich auch der Europäischen Union. Ist eine europäische Integration nicht eher etwas Nachträgliches als etwas, das bereits vorab vorhanden war? Das heißt, es ist keine Idee, die man jemandem aufzwingt, sondern eher ein Prozess, der durch Institutionen unterstützt wird und dessen Tempo durch die Wählerschaft, die die Integration letztendlich vollzieht, bestimmt wird. Während dieses Prozesses gibt es zwischen Institutionen und Wählern eine starke Interaktion. Dabei darf keine der beiden Seiten allzu weit vom aktuellen Entwicklungsstand, bzw. von der Sichtweise der anderen Seite abweichen, da sonst ein ungesundes Verhältnis entsteht, bei dem es mit der Legitimation und der Verantwortlichkeit problematisch wird. Fazit: Die Formalisierung einer politischen Union bedarf zunächst eines gemeinsamen Empfindens und einer entsprechenden gemeinsamen Identität, bevor ein neuer Vertrag die Union besiegelt.

Aber wie könnten die Voraussetzungen für eine weitere Integration aussehen? Fernab von aller Volkswirtschaftslehre glaube ich, dass der deutsche Philosoph Wilhelm von Humboldt nicht ganz Unrecht hatte mit der Aussage, dass die Sprache einen Kreis um eine Nation zieht und über Einbeziehung und Ausschluss entscheidet. Ist nicht geschichtlich betrachtet einer der wesentlichen Faktoren, der die Vereinigten Staaten von Amerika von einem entsprechenden Gebilde in Europa unterscheidet, der, dass die einzelnen Staaten Nordamerikas als Satellitenstaaten aus einem einzigen Land hervorgingen – Großbritannien –, dessen Sprache, Kultur und Rechtssystem die gemeinsame Gründungsbasis darstellten, wie von Tony Judt in seinem Buch „Postwar“ dargelegt?

Falls der europäische Integrationsprozess zu einem zukünftigen Zeitpunkt in Richtung politische Einheit fortgesetzt werden soll, müsste man nicht langsam akzeptieren, dass die Wählerschaft zu diesem Schritt noch nicht bereit ist und, ebenso wichtig, dass wir diese Entwicklung aktuell sogar gefährden? Es mag gute volkswirtschaftliche Argumente für Schritte zu mehr Integration geben, doch die politischen Argumente scheinen nicht dazu zu passen. In den vergangenen Jahrzehnten befand sich die europäische Integration auf der Überholspur. Dabei wurde das Zusammenspiel von Staaten, Unternehmen und Individuen in allen Mitgliedsstaaten überwiegend sehr positiv beeinflusst. Doch die Krise in der Eurozone scheint auch zu zeigen, dass die Wähler nicht mit dem Institutionalisierungsprozess Schritt gehalten haben. Eine vollständige politische Union hat meiner Meinung nach doch eine andere Dimension als eine Notlösung für die Finanzkrise. Sie hat nämlich auch mit Identität und demokratischer Legitimierung zu tun. Wenn die Krise in der Eurozone eine weitere Integration in beiden Dimensionen – politisch und wirtschaftlich – gefährdet, anstatt sie zu erleichtern, wäre es nicht vernünftig, einen Schritt zurück zu machen (Auseinanderbrechen des Euro?), um die strukturellen Ungleichgewichte zu beseitigen und eine langsamere aber dafür nachhaltigere strukturelle Angleichung sowie eine weniger hitzige Atmosphäre zu ermöglichen, in der eine gemeinsame Identität gedeihen kann? Ein Auseinanderbrechen hätte wohl kurzfristig negative Auswirkungen, aber besteht nicht auch die Möglichkeit, dass es die Weichen für eine anschließend stärkere wirtschaftliche, politische und soziale Erholung stellt? Demnach hätte man langfristig gesehen zwei Schritte vorwärts getan, um politische Stabilität und Wohlstand zu sichern. D. h., man gibt ein Projekt auf (Optimisten würden sagen „legt es auf Eis“), um das Überleben des größeren Projekts zu ermöglichen.

Ich drücke die Daumen, dass Deutschland heute Abend gewinnt – und dass Europa als Projekt langfristig erfolgreich ist!

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Markus Peters

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