„Disinfloyment“ – wenn sich die Lage am Arbeitsmarkt verbessert und die Inflation gleichzeitig sinkt

Als ich gestern Abend den Worten von Ben Bernanke lauschte, mit denen er seine Entscheidung bekannt gab, den monatlichen Aufkauf von Staatsanleihen und hypothekarisch besicherten Wertpapieren um 10 Mrd. US-Dollar zu reduzieren, wurde mir klar, dass es nun an der Zeit ist, einen neuen Begriff zu prägen. Da sich die Lage am Arbeitsmarkt in den letzten Monaten von einem sehr schlechten Ausgangsniveau wieder deutlich verbessert hat, während sich das BIP-Wachstum ausgehend von einem ähnlich schwachen Level mittlerweile ebenfalls wieder positiv entwickelt, halte ich es für absolut gerechtfertigt, dass die US-Notenbank zwar weiterhin Liquidität historischen Ausmaßes bereitstellt, dies nun aber in einem etwas geringeren Umfang. Schließlich prognostiziert die Fed, dass die Wirtschaft in den nächsten Jahren ein neuerliches Wachstum zwischen 2,8 und 3,2 Prozent vorlegen wird, während sie für den gleichen Zeitraum einen Rückgang der Arbeitslosenquote auf dann nur noch 5,5 bis 5,8 Prozent erwartet. Mit etwas Abstand betrachtet würde man angesichts solcher Konjunkturprognosen doch eigentlich davon ausgehen, dass der Leitzins bei deutlich über 0 Prozent liegen müsste. Weshalb also hält Bernanke die Erwartungen des Marktes hinsichtlich der weiteren Zinsentwicklung weiter unten? Und aus welchem Grund stellt er nach wie vor jeden Monat Liquidität in Höhe von nunmehr 75 Mrd. US-Dollar zur Verfügung?

In den 1970er Jahren war in den wirtschaftlich seinerzeit relativ weit entwickelten Volkswirtschaften ein neues und überraschendes Phänomen zu beobachten: ein niedriger Beschäftigungsgrad bei gleichzeitig hoher Inflation. Wie wir alle wissen, bezeichnete man dieses Szenario als „Stagflation“. Heutzutage haben wir es in den USA (und seit kurzem auch in Großbritannien) mit dem genauen Gegenteil davon zu tun: nämlich mit rasant steigenden Beschäftigtenzahlen sowie einer gleichzeitig sinkenden Inflation. Ich bezeichne eine solche Konstellation als „Disinfloyment“, was sich in etwa mit „Disinfläftigung“ übersetzen lieβe.

Fed-Chef Bernanke hat erklärt, dass eine niedrige Inflation „nicht gerade wenig Anlass zur Sorge“ gebe. Einerseits muss man dabei berücksichtigen, dass es die sich verbessernde konjunkturelle und politische Lage sowie möglicherweise auch gewisse Befürchtungen hinsichtlich einer einsetzenden Blasenbildung waren, die den Anstoß für das so genannte „Tapering“, also die Reduzierung der Anleihenkäufe, gegeben haben. Andererseits war es auf das vorherrschende Inflationsumfeld zurückzuführen, dass die zukunftsgerichteten Hinweise („Forward Guidance“) immer wichtiger geworden sind, während das K.o.-Kriterium „Arbeitslosenquote“ parallel dazu an Bedeutung verloren hat. Ansonsten würde man angesichts insgesamt wieder besserer Wirtschaftsaussichten doch eine wirkliche Normalisierung der Geldpolitik erwarten, im Rahmen derer dann auch keine Liquidität mehr bereitgestellt würde und die Zinsen stattdessen angehoben werden würden. Die Frage, vor der sich Bernanke meiner Meinung nach fürchtet (und die auch ich ihm gestellt hätte), lautet deshalb: „Was passiert, wenn die Nullzinspolitik, die Bereitstellung umfangreicher Finanzspritzen und die „Forward Guidance“ nicht ausreichen sollten, um eine Inflation zu generieren, die der Zielvorgabe entspricht oder diese sogar übersteigt? Was dann, Ben?“

Selbst wenn sich die US-Notenbank mit Vollbeschäftigung, einem akzeptablen Wachstum sowie einer Disinflation wiederfinden sollte, würde die Fed erschreckend schnell an die Grenzen ihrer Handlungsmöglichkeiten stoßen, wenn die Leitzinsen gleichzeitig ebenso wie die Langfristzinse auf extrem niedrigen Niveau blieben n, und die immer höheren Liquiditätsspritzen kaum noch zusätzliche (oder sogar immer weniger) positive Wirkung zeigen würden. Dann wären so genannte „Helicopter Drops“, bei denen Privathaushalten und Verbrauchern unmittelbar Liquidität zur Verfügung gestellt wird, vermutlich das einzige noch verbliebene Instrument. Das Wissen darum bildet meiner Einschätzung nach die Grundlage für die jüngste Entscheidung der US-Notenbank. Bei einer Rendite 10-jähriger US-Staatsanleihen, die zu Beginn dieses Jahres bei 1,5 Prozent lag, einer zügigen Bereitstellung von Liquidität sowie einem Zinsniveau von etwa 0 Prozent konnte die Fed kaum etwas tun, um der rückläufigen Inflation entgegenzuwirken, denn sie konnte die Ankurbelungsmaßnahmen ja nicht mehr deutlich aufstocken. Seitdem im Mai das „Tapering“-Wort erstmals ausgesprochen wurde und die konjunkturfördernden Maßnahmen gestern Abend dann zum ersten Mal leicht reduziert worden sind, ist die Rendite 10-jähriger Anleihen auf nahezu 3 Prozent nach oben geklettert. Nun aber können die Wirtschaftsdaten für eine derartige Enttäuschung sorgen, dass die Renditen auch wieder sinken, während die „Forward Guidance“ mit einem höheren Zeithorizont versehen wird. Dann könnten die quantitativen Lockerungsmaßnahmen zur Ankurbelung der Wirtschaft in der Folge auch wieder ausgeweitet werden.

Demnach befindet sich die Wirtschaft eines Landes angesichts eines „Disinfloyment“-Szenarios in einem Zustand, vor dem sich die politischen Entscheidungsträger zu Recht fürchten, weil die Wirtschaftspolitik unter solchen Bedingungen – abhängig von der Ausgangssituation der entsprechenden Volkswirtschaft – allmählich ineffektiv wird. Doch ist wirklich davon auszugehen, dass wir diesen Ausdruck in den nächsten Jahren öfter hören werden? Wahrscheinlich nicht.

Damit sich ein solches „Disinfloyment“-Umfeld nämlich überhaupt zu einem handfesten Problem entwickelt, muss sich die Lage am Arbeitsmarkt weiter verbessern, während die Inflation gleichzeitig entweder weiter sinken muss bzw. nicht ansteigen darf. Während ich die erst genannte Entwicklung zum aktuellen Zeitpunkt für äußerst wahrscheinlich halte, ist das letztgenannte Szenario meiner Meinung nach recht unrealistisch. Und auch die Fed bezifferte ihre Inflationsprognose für 2014 gestern auf bereits 1,4 bis 1,6 Prozent. Obwohl die Teuerungsrate damit immer noch deutlich unter der Zielvorgabe liegt, wäre dieses Niveau dann nicht mehr so besorgniserregend wie derzeit noch. Gleichzeitig teilte Bernanke gestern mit, dass die quantitativen Lockerungsmaßnahmen seiner Einschätzung nach auf jeder der zukünftigen Sitzungen schrittweise um weitere 10 Mrd. US-Dollar reduziert werden könnten, bis Ende 2014 dann gar keine zusätzliche Liquidität mehr bereitgestellt werden würde. Allerdings bin ich der Meinung, dass sich die US-Notenbank mit Blick auf die nächsten 12 Monate damit auf sehr dünnes Eis begibt. Denn wenn das „Tapering“ fortgesetzt wird und die Märkte irgendwann das endgültige Auslaufen der Ankurbelungsmaßnahmen erwarten, werden die Langfristzinsen ansteigen (wie es bereits in diesem Sommer der Fall war). Dann könnte die Gefahr bestehen, dass die Tendenz der Wirtschaftsdaten ein weiteres Abrücken von der quantitativen Lockerungspolitik unmöglich macht. Damit sich ein sukzessiver Anstieg der Zinsen nicht belastend auf die Konjunkturerholung auswirkt, muss das Wirtschaftswachstum nämlich kräftig genug sein, um mit derart höheren Zinsen fertig zu werden. Und würden solche Bedingungen dann nicht zwangsläufig auch eine Inflation mit sich bringen? Entweder hält die US-Notenbank die Erholungstendenz also für zu instabil, um das „Tapering“ fortzusetzen, und hält deshalb an ihren monatlichen Liquiditätsspritzen fest (wobei sie dann riskieren würde, einen Anstieg der Inflation in Kauf zu nehmen, wenn sich die konjunkturelle Lage wieder verbessert), oder aber die Konjunkturerholung ist schlicht kräftig genug, und auch die Inflation (abgesehen von den Rohstoffpreisen, deren Entwicklung die Fed nicht beeinflussen kann) wird wieder anziehen.

Die Märkte sind mit dem inflationären Umfeld momentan aber erstaunlich zufrieden, was wohl auch auf die konstant niedrige Teuerungsrate in den Industriestaaten zurückzuführen ist. Vor diesem Hintergrund sollten man sich vor Augen führen, dass die Geldpolitik seit dem Ausbruch der großen Finanzkrise nur einem einzigen großen Ziel unterworfen ist: nämlich eine  Spirale der Deflation, wie sie in den 1930er Jahren zu beobachten war, zu verhindern. In diesem Dilemma ist eine Deflation zweifellos das größere Übel, das bisher aber umgangen werden konnte. Doch nun erholen sich die etablierten Volkswirtschaften wieder, so dass die Liquidität, die die Rohstoff- und Schwellenländermärkte zuletzt angetrieben hat, mittlerweile an diese Märkte zurückströmt. Dadurch wird die Inflation weltweit noch weiter nach unten gedrückt. Deshalb gilt es, 2014 im Hinblick auf diese disinflationären Kräfte eine Gratwanderung zu vollziehen, so dass die monetären Entscheidungsträger die Geldpressen letztlich wieder anwerfen müssen. Gleichzeitig muss die Konjunkturerholung diesen Wandel auch überstehen und ihren zugrunde liegenden Aufwärtstrend beibehalten. Entweder riskieren wir damit, einen Anstieg der Inflation aufgrund einer höheren Geldmenge noch weiter in die Zukunft zu verlagern, oder aber er steht uns früher bevor als wir alle derzeit annehmen. Wie auch immer, die Inflation kommt auf jeden Fall. Und damit wir es nicht vergessen: Bis zum Ende ihres „Tapering“-Zyklus wird die Fed die Geldmenge um 4,25 Bio. US-Dollar erhöht haben. Wenn dann auch noch die Umlaufgeschwindigkeit des Geldes ansteigt, wird auch die nominale Wirtschaftsleistung anziehen, solange dem Kreislauf nicht so viel Liquidität entzogen wird, um diesen Effekt auszugleichen. Ein solches Szenario halte ich jedoch für unwahrscheinlich. Dadurch aber würde die Wahrscheinlichkeit für ein „Disinfloyment“-Umfeld steigen. Vielmehr werden in Großbritannien und den USA meiner Meinung nach vor allem die nominale Wirtschaftsleistung und die Rückkehr der Inflation für Überraschungen sorgen. Deshalb dürften wir vorerst wohl nicht mehr allzu viel von einem „Disinfloyment“-Szenario hören.

 

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Ben Lord

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